Orca-Forschung vor Kanadas Westküste

Orcas sind hochintelligent und zutiefst sozial. Sie leben in Clan-Strukturen mit einer komplexen Kultur, die prägt, wie sie jagen, kommunizieren und welche Traditionen sie pflegen. Der Wissenschaftler Dr. Paul Spong und seine Partnerin Helena Symonds haben es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Orcas zu erforschen und Menschen auf der ganzen Welt für die Wale zu begeistern. 1972 gründete Spong das OrcaLab, eine landbasierte Forschungsstation auf Hanson Island in British Columbia (Kanada), die es erlaubt, Orcas in ihrer natürlichen Umgebung zu erforschen, ohne sie dabei in ihrem Alltag und Lebensraum zu stören. Die Umweltstiftung unterstützt die Arbeit des Teams seit 2010.

Drei Orcas aus der Distanz fotografiert, wie sie kurz ober der Wasseroberfläche auftauchen.
Foto © Dr. Paul Spong / OrcaLab

1967 begann Dr. Paul Spong im damaligen Vancouver Public Aquarium (heute Vancouver Aquarium) Orcas zu erforschen. Zu dieser Zeit war nur sehr wenig über die Meeressäuger bekannt. Durch die enge Zusammenarbeit mit den Walen erkannte er, wie sehr Gefangenschaft den Tieren schadet. Zweimal wurde er Zeuge, wie Orca-Familien für den Transport in andere Aquarien getrennt wurden. Als er das Aquarium verließ, beschloss er, Orcas in freier Wildbahn zu studieren – ohne sie dabei zu stören.

Im Sommer 1970 errichteten er und eine kleine Gruppe von Freiwilligen ein Lager auf der unbewohnten Insel Hanson Island. Dieser Ort eignete sich perfekt für das Studium der Wale, denn in diesem Gebiet verbringen die Orca-Familien der sogenannten "Northern Resident Community" aus British Columbia in Westkanada den Sommer. Die Gegend ist ein absoluter Wal-Hotspot – nicht nur für Orcas, sondern auch für andere Walarten wie dem Buckelwal. Von einem Felsvorsprung aus ließen die Forscher:innen das erste Unterwassermikrofon (Hydrophon) ins Wasser, mit dem die Laute der Orcas aufgezeichnet werden konnten. Zunächst bewohnten Spong und seine Unterstützer:innen das Lager nur im Sommer. Ende der 1970er Jahre bauten sie es zu einer dauerhafte Forschungsstation aus und Helena Symonds stieß zum Team hinzu.

Heute schicken Symonds und Spong Live-Videos und -Töne der Orcas in die ganze Welt. Das Team hat mittlerweile ein ganzes Netzwerk aus ferngesteuerten Hydrophonen und Kameras installiert, die einen Großteil des "Kernlebensraums" der Northern Residents akustisch und visuell abdecken. Die Hydrophone und Kameras sind über ein Radiowellennetz mit dem OrcaLab verbunden und erlauben es, ein Gebiet von etwa 50 Quadratkilometern zu überwachen, in dem sich die Orca-Familien im Sommer aufhalten. Auf diese Weise ist es möglich, die Wale und ihre Bewegungen 24 Stunden am Tag zu verfolgen. Jedes Mal, wenn die Rufe der Orcas auf einem der Hydrophone zu hören sind, starten die Freiwilligen im Lab eine Aufnahme – über 1000 Stunden Tonmaterial kommen so in einem Jahr zusammen.

Tag und Nacht im Einsatz

Von Sommer bis Herbst herrscht im OrcaLab Hochbetrieb. In Drei-Stunden-Schichten arbeiten Freiwillige dann rund um die Uhr. Tagsüber sind zwei Personen im Lab stationiert. Sie sind für die akustischen Aufnahmen zuständig, bedienen die ferngesteuerten Kameras und führen ein genaues Logbuch darüber, was und wen sie hören. Etwas Übung braucht es dabei schon, um die einzelnen Laute und Rufe den verschiedenen „Clans“ (A, R und G) der Northern Residents Orcas zuzuordnen. Mithilfe der Hydrophone und Kameras lässt sich zudem genau ermitteln, wo sich die jeweilige Gruppe gerade befindet und wohin sie weiterziehen.

Oft durchqueren die Orcas auch den Blackney Pass, die Wasserstraße genau vor dem OrcaLab. Hier wird tagsüber fleißig mit Ferngläsern Ausschau gehalten. Sobald ein Wal gesichtet wird, ertönt der Ruf „Orca!“. Dann bricht hektische Betriebsamkeit aus: Kameras werden ausgerichtet, Fotos gemacht und genau dokumentiert: Um welche Orca Familie handelt es sich? Wie viele Tiere konnten gezählt werden? Sind bekannte Individuen darunter? Sind die Orcas aus dem Blickfeld verschwunden, kann das Forschungsteam die Wale mithilfe der Kameras und Hydrophone weiter auf ihrem Weg nach Süden verfolgen, bis sie schließlich außer Reichweite sind.

Worüber reden Wale?

Tausende Stunden an Audio- und Videomaterial sind auf diese Weise entstanden. Doch was passiert mit den ganzen Daten? Zum einen werden sie für die Erforschung der Northern Residents genutzt. Alle Familien und ihre Mitglieder sind visuell identifiziert und viele Individuen dem Team sehr gut bekannt. Das erlaubt es, die Population als Ganzes im Blick zu behalten.

Auch die Sprache der Wale faszinierte das Team von Anfang an. Denn jeder der drei Clans der Northern Resident Orcas pflegt unterschiedliche akustische Traditionen, die es ermöglichen, sie voneinander zu unterscheiden. Das nächste große Ziel des Teams ist es, die Laute, Klicks und Pfiffe den einzelnen Individuen zuzuordnen. Möglich wird dies durch künstliche Intelligenz. Sie soll dabei helfen, die Sprache der Wale zu analysieren, Muster zu erkennen und Zusammenhänge zwischen verschiedenen Lauten und beobachtetem Verhalten herzustellen. Auch aus diesem Grund ist das OrcaLab im Sommer Sammelplatz für zahlreiche Wissenschaftler:innen, die vor allem eine Frage umtreibt: Worüber sprechen die Wale?

Unterwasserlärm bedroht Northern Residents

Die Daten sollen auch helfen, die Tiere und ihren Lebensraum besser zu schützen. Die Region rund um das OrcaLab wurde 2006 als sogenanntes „Critical Habitat“, als Kernlebensraum, für die Gemeinschaft der dort ansässigen Northern Resident Orcas ausgewiesen. Die Lebensbedingungen der Orcas im Gebiet hat dies allerdings bisher wenig verbessert: Vor allem die Lärmbelästigung durch den Schiffsverkehr hält unvermindert an. Die Schiffe dringen weiter in das Gebiet der Orcas vor. Ein Beispiel sind Schlepper, die Baumstämme durch die Johnstone Strait nach Osten ziehen – der Unterwasserlärm ist so laut, dass er die gesamte Wasserstraße oft über Stunden füllt. Ein großes Problem ist auch der Lärm von Kreuzfahrtschiffen, die das Gebiet regelmäßig durchqueren.

Das OrcaLab macht seit vielen Jahren deutlich, welche verheerenden Auswirkungen der Schiffslärm auf die Meeressäuger hat. Unterwasserlärm hat einen sehr breiten Frequenzbereich und kann sich über viele Kilometer ausbreiten. Wale nutzen ihr Echolot, um innerhalb ihrer Gruppe zu interagieren, zu navigieren und vor allem, um ihre Beute zu finden. Gerade Wale, die wie die Northern Residents in Küstenregionen leben, haben kaum Möglichkeiten, dem zunehmenden Schiffslärm zu entkommen. Die Folge: Die Orcas finden weniger Nahrung, verlieren die Orientierung oder wandern ab.

Ausgerechnet während der Corona Pandemie bot sich eine einmalige Chance für die Wissenschaftler:innen. Zum ersten Mal konnten sie die Wale und ihr Verhalten ohne den störenden Lärm der Schiffe beobachten.

Als Teil eines größeren Netzwerks aus Hydrophonen, des “British Columbia Coast-Wide Hydrophone Network (BCCHN)”, macht sich das OrcaLab seit Jahren dafür stark, den Schiffslärm in der Region zu verringern. Mithilfe von technischem Fachwissen sollen die gesammelten Daten analysiert werden, um die Geräuschkulisse an der Küste besser zu verstehen und die Auswirkungen des Lärms auf die Tiere zu analysieren. Ziel ist es aktuell, die zuständige Behörde Transport Canada davon zu überzeugen, Geschwindigkeitsbegrenzungen für die Kreuzfahrtschiffe und andere Schiffe, die das Gebiet passieren, einzuführen. Wichtig dafür könnten auch die während der Corona Pandemie gesammelten Daten sein: Zum ersten Mal konnten die Wissenschaftler:innen die Wale und ihr Verhalten ohne den störenden Lärm der Schiffe beobachten.

Eine besondere Tradition: „Beach rubbing“

Um mehr Schutz geht es auch bei den sogenannten „rubbing beaches“ (deutsch: Reibestrände), die für die Northern Resident Orcas in der Region eine besondere Bedeutung haben. Dort pflegen sie eine einzigartige Tradition: Zum „beach rubbing“ kommen die Wale an bestimmten Stränden in der Johnstone Strait zusammen, um sich im flachen Wasser an Kieseln zu reiben. Während zwei dieser Strände, „Main Beach“ und „Strider“, im geschützten Gebiet eines Reservats liegen, hat es die Wale zuletzt vermehrt zu einem neuen Strand gezogen, der bisher nicht unter Schutz steht. Auch hier hat das Team des OrcaLabs mittlerweile Kameras und Hydrophone installiert. Die so gewonnenen Daten sollen der kanadischen Öffentlichkeit und den Behörden vor Ort die Bedeutung des Strandes verdeutlichen und sie von der Notwendigkeit überzeugen, ihn ebenfalls unter Schutz zu stellen.

Ein halbes Jahrhundert im Einsatz

Seit über 50 Jahren macht sich das OrcaLab für die Erforschung und den Schutz der Wale stark. Spong und Greenpeace verbindet dabei eine ebenso lange Geschichte. Denn es war Spongs Arbeit mit den Orcas des Vancouver Aquariums und seine Erkenntnisse über ihre Intelligenz, die ihn einst zu Greenpeace führten. Dort inspirierte er den Journalisten und Greenpeace Mitbegründer Bob Hunter dazu, sich dem Schicksal der Wale anzunehmen. Die Greenpeace-Kampagne "Save the Whales“ (Rettet die Wale) machte in den 1970er Jahren weltweit auf die brutale Jagd von Walen aufmerksam und feierte ihren großen Erfolg in dem von der Internationalen Walfangkommission (IWC) 1982 beschlossenen Walfang-Moratorium.