Tschornobyl ist überall
Als die russische Armee gleich in den ersten Kriegswochen das im Jahr 1986 havarierte Atomkraftwerk Tschornobyl besetzte, war für die Atomexperten von Greenpeace sofort klar: Die Belagerung hat gravierende Auswirkungen auf die Strahlenbelastung vor Ort. Deshalb plante die Umweltschutzorganisation einen riskanten Einsatz: Nach dem Abzug der russischen Truppen sollte ein internationales Team in den Norden der Ukraine reisen, um die radioaktive Kontamination zu dokumentieren.
Greenpeace nutzt für Orte, Flüsse etc. die ukrainischen Namen, um die eigenständige Kultur und Sprache der Ukraine zu betonen. Tschernobyl – mit e – ist eine Transkription aus dem Russischen.
Die Umweltstiftung Greenpeace förderte diese Unternehmung ganz im Stil eines Rapid-Response-Teams: schnell und unkompliziert.Ziel der – von der ukrainischen Regierung unterstützten – Mission war es, unabhängige und wissenschaftlich fundierte Messdaten zu bekommen. Denn was die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) im April nach eigenen Messungen versichert hatte, klang für die Greenpeacer wenig plausibel: Die Strahlungswerte seien mit bis zu 9,46 Mikrosievert pro Stunde niedrig, so die Aufsichtsbehörde: „Es besteht keine Gefahr für die Öffentlichkeit.“
Ein riskanter Einsatz
Mit zwei Transportern, die mit Schutz- und teurer Spezialausrüstung bepackt waren, fuhren die Experten Anfang Juli über Polen in die Ukraine. Auf dem Weg nach Tschornobyl hörten die Greenpeacer immer wieder Luftalarmsirenen. Sie befürchteten, dass Belarus in den Krieg eintreten könnte. Im deutschen Greenpeace-Büro überprüften Kolleginnen und Kollegen Tag und Nacht alle möglichen Nachrichtenkanäle und soziale Medien, um eine Gefahrensituation frühzeitig zu erkennen.
In der Sperrzone angekommen, durfte sich das Team nur auf asphaltierten Straßen bewegen, denn große Teile des Geländes sind seit der militärischen Belagerung unzugänglich: Überall lauern Minen, nicht explodierte Munition oder Sprengfallen. „Vier Tage lang schlüpften wir in unsere Gummistiefel und Ganzkörperanzüge und verklebten beides miteinander, um die Haut vor Kontakt mit gefährlichen Partikeln zu schützen. Mit FFP3-Masken und Handschuhen verhinderten wir Strahlungskontamination durch Einatmen oder durch mikroskopische Wunden“, erklärt Nils Jansen, Leiter des Investigativteams von Greenpeace.
Zusätzlich behalfen sich die Experten mit bis zu sechs Meter langen Teleskopstangen, an denen sie Messgeräte montiert hatten. Sowie mit einer eigens für diesen Einsatz konstruierten Strahlenmessdrohne, die es ermöglichte, Messungen aus bis zu 100 Metern Höhe vorzunehmen. Obwohl im ganzen Gebiet wegen Spionagegefahr absolutes Drohnenflugverbot herrschte, gelang es, vor allem aufgrund des erfahrenen ukrainischen Kollegen Denys Tsutsaiev, eine Ausnahmegenehmigung zu bekommen. Auf diese Weise versuchte das Team so nah wie möglich an die ehemaligen Stellungen der russischen Armee heranzukommen, dorthin, wo Soldaten Schützengräben ausgehoben und kontaminiertes Erdreich bewegt hatten.
Laborauswertungen vor Ort
Dank eines mobilen Labors konnten die Experten Bodenproben direkt vor Ort analysieren. „Tatsächlich haben wir erhöhte Strahlenwerte gemessen“, sagte Greenpeace-Atomexperte Shaun Bernie später bei einer Pressekonferenz in Kijiw. Die höchsten Werte liegen rund dreimal so hoch wie diejenigen, die die IAEA veröffentlicht hatte. „Diese Verharmlosung der IAEA, deren stellvertretender Direktor bekanntlich jahrelang beim russischen Staatskonzern Rosatom beschäftigt war, haben wir eindeutig widerlegt“, resümierte Bernie. Auch das Bundesamt für Strahlenschutz bestätigte die Plausibilität der wissenschaftlichen und unabhängigen Greenpeace-Ergebnisse.
„Serhii Kirieiev, der Direktor des SSE Ecocenter, das die Tschornobyl-Ruine überwacht, hätte uns und unser Equipment am liebsten da behalten“, erzählt Jansen. Gleich nach der Ankunft hatte er den Greenpeacern seine geplünderten Labore gezeigt – russische Soldaten hatten Computer und Festplatten geraubt. Dieser Datenklau und die Verwüstung von Referenzproben wirft die atomare Forschung in der Ukraine um Jahre zurück. „Wir konnten ihm zumindest in Aussicht stellen, dass Greenpeace sich weiterhin für die Ukraine engagieren wird.“
Auf dem Weg zur Pressekonferenz in der ukrainischen Hauptstadt fuhr das Team durch Orte wie Irpin und Butscha, wo die russische Armee ein Blutbad unter Zivilisten angerichtet hatte. „Das war sehr erdrückend“, sagt Nils Jansen. „Aber die Zerstörung ist nicht nur dort, sie ist überall, in jedem Dorf. Und dennoch geht das Leben weiter. Wie stark die Menschen sind, hat mich sehr beeindruckt.“